Rezension: Vivian Maier. Das Meisterwerk der unbekannten Photographin. 1926 -2009.
Der Winter zieht sich ungemütlich in die Länge, was wäre schöner, als auf dem Sofa im Warmen zu sitzen und in einem Bildband zu blättern? Da hätte ich eine Empfehlung…
Warum gerade dieser Bildband? Weil er einlädt, sich mit diversen Fragen auseinanderzusetzen. Zum Beispiel:
- Okay, vielleicht beginnen wir mit einer kurzen Einordnung… Vivian Maiers Bilder sind im Genre der sogenannten Street Photography / Streetfotografie anzusiedeln.
Allgemein ist damit eine Fotografie gemeint, die im urbanen öffentlichen Raum entsteht, auf Straßen, in Geschäfte oder Cafés hineinblickend, Passantengruppen oder Einzelne herausgreifend, oftmals als Momentaufnahme, aber ebenso essayhafte Abfolge und Milieustudie.
https://de.wikipedia.org/wiki/Straßenfotografie
Was ist an Maiers Bildern so besonders? Das beginnt bereits mit der Entdeckung dieses Werks. Dem blanken Zufall geschuldet und wie aus einem Film: Junger Mann sucht für Recherchezwecke nach historischen Stadtaufnahmen, ersteigert Nachlass einer Unbekannten mit über hunderttausend Negativen und unentwickelter Filmrollen und stößt auf einen kulturellen Schatz.
Dazu gibt es diesen Dokumentarfilm, auf den ich mich in meinem Beitrag auch stark beziehe. Er kostet ein paar Euro, ist aber aus meiner Sicht sehr lohnenswerte Unterhaltung:
Vivian Maier war keine ausgebildete Fotografin. Sie verbrachte ihr Leben alleinstehend. Obwohl erst seit etwas mehr als einer Dekade verstorben, kann kaum jemand etwas zur Biographie beitragen, es ist fast wie bei einem Phantom. Niemandem aus ihrem Umfeld war bewusst, in welchem Ausmaß sie fotografierte und wie gut diese Aufnahmen waren. Und warum tat sie das überhaupt? Wieso entwickelte sie Tausende Filme nicht? Reichte ihr das Wissen, dass es da ein Negativ gab? Hatte sie Angst vor den Ergebnissen? Sie zeigte niemandem ihre Aufnahmen. Das ist schon etwas atypisch. Die meisten fotografierenden Menschen möchten einen Moment festhalten. UND sie möchten, dass die Welt erfährt, wie sie diese wahrnehmen. Die Leute fanden Anerkennung auch schon zu Zeiten gut, bevor es Herzchen auf Instagram gab. Maier war anscheinend frei davon. Oder hatte schlicht kein Geld, um Filme zu entwickeln.
John Maloof, der Ersteigerer und Entdecker eines Teils ihres Nachlasses beschäftigte sich zwar durchaus mit der ethischen Frage, ob man dieses Werk veröffentlichen sollte oder nicht. Im Dokumentarfilm zieht er seine ganz eigenen Schlüsse: Da Maier in den 50er Jahren mal einen Versuch unternommen hatte, Landschaftsaufnahmen in ihrem Heimatdorf in Frankreich in einem kleinen Fotoladen zu vertreiben, leitet er daraus ab, dass Maier mit Veröffentlichungen kein Problem hätte und durchaus bereit war, Aufnahmen einer Öffentlichkeit zu zeigen. Ernsthaft? Das erscheint mir doch etwas an den Haaren herbeigezogen.
Ich persönlich sehe das etwas pragmatischer. Die Person, um dessen Interessen es hier geht, existiert nicht mehr. Zudem gibt es keine Nachkommen, die Rechte am Werk geltend machen oder Skrupel haben könnten oder deren Ansehen/Würde in Gefahr wäre. Auch das Sujet ist relativ unverfänglich, wenn man von den Selbstportraits absieht. Insofern sehe ich in der Veröffentlichung kein Problem. Eher schon in dem Versuch, posthum zu versuchen, die Biographie einer Privatperson an die Öffentlichkeit zu bringen. Die Menschen scheinen irgendwie nicht damit klar zu kommen, das Werk einer Künstlerin zu sehen und nichts über die Schaffende dieses Werks zu wissen. An dieser Stelle möchte ich auch deutlich machen, dass ich keine Kunsthistorikerin bin und einen sehr laienhaften Blick auf das Thema habe. Was uns zum zweiten Fragenkomplex überleitet.
2. Der ist für mich schon schwieriger zu beantworten. Wir wissen kaum etwas über den Kontext. Die Gefahr ist also groß, dass man in diese Momentaufnahmen mehr hineininterpretiert, als von der Urheberin beabsichtigt. Aber ist das für uns Betrachtende so wichtig? Ist es nicht schon gewinnbringend genug, wenn jemand ein Bild anschaut und darüber ins Nachdenken kommt? Ein Bild bekommt ja erst dadurch eine Aussage, dass die Betrachterin oder der Betrachter es mit etwas in Beziehung setzen kann.
Und gerade diesen Aspekt finde ich so interessant an Fotografien, bzw. an Kunst im Allgemeinen. Was siehst du in dem Bild? Welche Assoziationen/Erinnerungen werden bei dir geweckt? Und ist es nicht faszinierend, dass es da so etwas wie eine Schwarmintelligenz gibt? Auffallend viele Menschen werden von gleichen Inhalten gefesselt. Da sind wir schon bei den Aspekten wie Bildkomposition, Linienführung, Motiv. Und dafür hatte Maier einen beeindruckenden Instinkt:
Was fesselt an diesem Bild? Die Streifen auf den Handtüchern, im Bikini fortgesetzt? Das Groteske an der Situation (Frau sonnt sich mit Lockenwicklern)? Das Selbstportrait?
Wieso fesseln Maiers Bilder? Da kann ich natürlich nur für mich sprechen. Vielleicht sieht man doch den Bildern an, dass sie nicht für ein Publikum gemacht wurden. Ich habe beim Betrachten nicht das Gefühl, dass die dargestellten Menschen ausgestellt oder bloßgestellt werden. Bei einer Diane Arbus oder Lisette Model habe ich das allerdings schon. Als hätte Maier nur Menschen und Situationen aufgenommen, zu denen sie eine Verbindung spürte. „Aufnehmen“ im wörtlichen Sinne. Auch wenn sie arme oder verwahrloste Menschen zeigt, behalten diese doch ihre Würde. Wenn ich die Fotos eines betrunkenen und offenbar hilflosen Mannes sehe, der mit hochgekrempelter Anzughose von einem Polizisten abgeführt wird, löst das in mir Mitgefühl aus und berührt mich. Ich habe nicht das Gefühl, dass auf diesen Menschen herabgeblickt wird. (Was, wie im Vorwort des Bildbands zutreffend beschrieben durch die verwendete Kamera begünstigt wird: Durch den Lichtschachtsucher fotografiert man leicht von unten nach oben, was dem Objekt perspektivisch etwas Erhabenes verleiht. Hätten viele andere Streetfotografen zu der Zeit auch machen können. Haben sie aber nicht…)
3. Im Dokumentarfilm wird es anhand von Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen deutlich: Maier war vermutlich psychisch krank. Sie war ein Messie, mied ein soziales „normales“ Leben und ging mit ihren Schützlingen nicht immer so um, wie man mit Kindern umgehen sollte. Das könnte man natürlich auf den Zeitgeist schieben, aber damit macht man es sich vermutlich ein bisschen zu einfach.
Ich interpretiere viele Fotografien als Versuch, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und das eigene Dasein zu dokumentieren oder vielleicht sogar zu spüren.
Früher dachte ich, man könnte Werk und Urheber losgelöst voneinander betrachten, aber inzwischen fühle ich mich damit zunehmend unwohl. Picasso war ein gruseliger Mensch und das schimmert immer mehr bei mir durch, wenn ich eines seiner Bilder sehe. (In diesem Zusammenhang verweise ich auf Hannah Gadsbys Bühnenprogramm „Nanette“, sie hat die Problematik fantastisch zusammengefasst.) Ich kann nicht mehr unbeschwert Michael Jackson oder David Bowie hören. Nur weil ich in einem Bereich Großartiges leiste, entlässt mich das nicht aus der Verantwortung für meine Handlungen. Und bei den drei männlichen Beispielen wollen wir nicht vergessen, dass sie mit uns Konsumentinnen und Konsumenten eine Menge Geld verdient haben. (An dieser Stelle fängt der Vergleich an zu hinken, da Maier dies nicht getan hat.) Auch, wenn die Zeitzeuginnen Maier berechtigt kritisieren, schwingt bei ihnen auch Mitgefühl durch. Entschuldigt dies das Geschehene?
Wenn man nichts über die Künstlerin wissen würde, könnte man sich diese Gedanken nicht machen. Dann kann man aber genauso wenig das Werk einer Urheberin kunsthistorisch einordnen. Und da ist auch diese bereits angesprochene Sehnsucht der Betrachtenden: Wer ist die Person hinter dem Bild, das mich so bewegt?
Es wäre allerdings auch vermessen, davon auszugehen, dass dieser Blogbeitrag eine Frage erhellen könnte, an der sich auch schon diverse Feuilletons die Zähne ausgebissen haben. Ein Dilemma, das vermutlich genauso kompliziert ist wie der Mensch an sich. Letztendlich müssen wir diese Frage wohl jeweils für uns selbst beantworten.
Und sonst so?
Das Buch kommt, wie nicht anders von Schirmer/Mosel zu erwarten, in guter Qualität und angenehmer Haptik daher. Man blättert gern durch die Seiten, die Bindung ist einwandfrei. Die Farbwiedergabe ist schön und das Papier lässt auch die Schwarzweißkontraste in den Bildern gut aufleben. Da erahnt man auch das handwerkliche Geschick der Fotografin und die Qualität des Werkzeugs. Das Buch hat stattliche Ausmaße und ein beeindruckendes Gewicht. Das wäre auch schon mein einziger Kritikpunkt am Werk. Wieso müssen Bildbände immer so groß und schwer sein?
Das sehr ausführliche Vorwort von Marie Heiferman ist keine leichte Kost, bedarf der bewussten Lektüre, ist aber lohnenswert zu lesen.
Wer sich den Winterstürmen trotzend in die Welt wagt: Bis Ende des Monats gibt es in der Galerie Noack in Berlin eine Ausstellung mit Bildern Maiers („Streetqueen“). Also Beeilung!
Wer sich das Buch besorgen möchte und diese Website unterstützen möchte, kann dies über den folgenden affiliate link tun:
Pressebilder wurden freundlicherweise zur Verfügung gestellt durch:
© 2021 Vivian Maier / Maloof Collection / courtesy Schirmer/Mosel
{Werbung, da Nennung eines Produktes. Ich habe den Titel selbst erstanden und erhalte vom Verlag keinerlei Honorar. Meine Meinung bilde ich mir mit Hilfe meines Verstandes selbst.}
Michael
19. September 2022 @ 22:22
Hallo Silke,
vielen Dank für das teilen deiner Gedanken!
Du hast eine sehr erfrischende Meinung (mein Gusto) und einen sehr feinen Schreibstil.
Bin über YT auf deinen Blog aufmerksam geworden und werde die nächsten Tage weiterlesen.
Keep going with your great work!
Viele Grüße
Michael
Silke Straube
20. September 2022 @ 9:29
Vielen Dank, so was liest man gern! Dann wünsche ich dir viel Spaß bei der weiteren Lektüre. Beste Grüße, Silke
Uwe Oldmann
16. Dezember 2022 @ 14:56
Guten Tag Frau Straube,
ich bin ebenfalls über ihren kleinen YouTube Kanal hierher gekommen.
Das Buch über Vivian Maier habe ich schon lange im Visier und werde es nun endlich ordern.
Was mich nun erstaunt beim Lesen ihrer Beschreibung ist folgender Satz:
Ich kann nicht mehr unbeschwert Michael Jackson oder David Bowie hören. Na Donnerwetter, was ein Statement.
Also das mit M. Jackson kann ich noch irgendwie nachvollziehen (Kinder, Schimpansen usw.), aber was hat denn Bowie verbrochen? Sein Drogenkonsum?
Interessiert mich wirklich, weil ich ihn als Musiker sehr schätze und über Jahrzehnte verfolgt habe. Über eine Antwort täte ich mich freuen.
Ansonsten, Gratulation, sie betreiben eine sehr schöne und elegante Website und ihre angenehme Art in den Videos hat mich zum Abonnieren veranlasst.
Viele Grüße
Uwe
Silke Straube
16. Dezember 2022 @ 22:16
Hallo Uwe,
danke für Ihren Kommentar. Der folgende Artikel fasst mein David Bowie-Dilemma ganz gut zusammen:
https://www.zeit.de/2018/43/david-bowie-biografie-sexismus-saenger-popstar
Ich habe ihn als Musiker auch sehr geschätzt, bin aber auch der Meinung, dass ALLE Menschen für ihre Handlungen verantwortlich sind. Auch Künstler.
Und da muss wohl jede Rezipientin / jeder Rezipient selbst entscheiden, wie damit umzugehen ist.
Herzliche Grüße
Silke
Uwe Oldmann
21. Dezember 2022 @ 11:10
Moin Silke, vielen Dank für den Link, der aber leider für mich nicht lesbar ist. Möchte nicht gleich ein Abo der „Zeit“ abschließen.
Verstehe aber nun wenigstens, worum es dir geht.
Das der gute David ziemlich schräg drauf war, exaltiert und ein Egomane, war mir schon vorher klar. Welcher große Künstler hat nicht seine Macken. Wenn ich an Leute wie Lagerfeld, Picasso, M. Jackson oder G. Michael u.a. denke.
Hat wahrscheinlich etwas mit der Überhöhung ihrer Person in der Wahrnehmung der Massen zu tun. Das Bowie aber ein Faible für den Faschismus hatte, ist mir neu. Hatte nur mal im Zusammenhang mit dem Cover der „Heroes LP“ darüber gelesen, dass er ein großer Fan der 20er Jahre und insbesondere für diverse deutsche Künstler aus dieser Zeit war.
Vielen Dank
LG Uwe