Rezension: Lindbergh.Dior.
Oder: 5,6 kg geballter Luxus.
Na, wieder ordentlich Bücher-Gutscheine zu Weihnachten geschenkt bekommen, aber keine Lust, viel zu lesen? Wie wäre es mit diesem fulminanten Bildband? Allerdings empfehle ich, bei diesem Gewicht entweder einen Bollerwagen mit in die Buchhandlung zu nehmen oder das Werk gleich per Spedition zu bestellen. Es ist nämlich wirklich schwer und ich hatte Schwierigkeiten, das Werk aus der edlen Pappverpackung herauszubekommen.
Zum Vorschein kommt … ein weiterer Schuber. Dieses Mal aus edlem, hellgrauen Leinen. Darin verbergen sich zwei Bildbände. Einmal das Archiv. Bestehend aus älteren Arbeiten, die Lindbergh für Dior angefertigt hat. Und dem zweiten Band. 70 Jahre Haute Couture, festgehalten von Lindbergh im New York unserer Tage. Welch großartige, verwegene Idee! Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie die Mitarbeiter des Dior-Museums mit Schnappatmung neben dem Set gestanden haben, aus Angst, das Model könnte auf dem Asphalt ausrutschen. Aber damit wären wir auch gleich beim Wesentlichen angekommen, was den Reiz dieses Bildbandes ausmacht. Dem Spannungsfeld zwischen Historie und Moderne. Wenn ein zeitgenössisch anmutendes Model in einem 40er-Jahre-Kostüm am heutigen Times Square steht, das hat was.
Und Lindbergh versteht es dabei perfekt, den Stil der Streetfotografie dafür mit einzuspannen. Die Farben sehr sättigungsarm, unaufgeregt oder gleich in Schwarzweiß. Teilweise Doppelbelichtungen oder Langzeitbelichtungen mit Bewegungsunschärfen. Und immer wieder, wie auch hier zu sehen, das Spiel mit Spiegelungen. Die Körnung verleiht einen analogen Charme.
Der Bildaufbau ausschnitthaft, zufällig anmutend. Und großzügig. TASCHEN hatte kein Problem damit, auch einmal über eine komplette Seite schwarzen Rand zu drucken.
Und: Ist Alek Weks Pose nicht großartig?
Somit dürfte dieses Werk nicht nur für Menschen interessant sein, die sich für Peter Lindbergh oder Modefotografie entflammen lassen, sondern auch für diejenigen, deren Herz für die Streetfotografie schlägt. Wobei man schon so ehrlich sein sollte, nicht zu vergessen, dass es sich hier um gestellte Situationen handelt.
Wenn man es weiß, dann sieht man es auch: Lindbergh kommt von seiner Ausbildung her eigentlich aus der Malerei. Das blitzt immer wieder einmal auf.
Der New York-Band lädt zum Schwelgen ein. Hier passt einfach alles. Hinten ein Glossar, der das Model und das dargestellte Kleidungsstück würdigt.
Nicht minder interessant: der Archiv-Band. Das Papier etwas dünner, matter, aber auch sehr haptisch. Und hier findet sich auch das einzige männliche Model, eine Reihe mit Robert Pattinson.
Und fast schon legendär: das Hutbild mit Linda Evangelista.
Womit wir auch bei Lindberghs Leistungen angekommen wären. Es gehört mit zu seinen Verdiensten, dass das Model nicht mehr nur als lebender Kleiderständer, sondern auch als Person wahrgenommen wird. Natürlich kann man darüber streiten, ob dieser daraus resultierende Supermodelkult wirklich erstrebenswert ist/war. Aber so war es doch wenigstens ein Fortschritt zu dem, wie es vorher lief. Ich mag nicht alles, was Lindbergh gemacht hat (die Sache mit den „Smoking Women“ finde ich zum Beispiel richtig schlimm). Und das dort gezeigte Schönheitsideal hat nach wie vor Luft nach oben und bedarf endlich einer Weiterentwicklung. (Ich erlebe immer wieder in Shootings Menschen, die mit sich im Unreinen sind. Ich möchte sie einfach nur schütteln und sie anbrüllen: „Du bist OKAY! Hab dich selber lieb!“ Das ist eine Mitschuld der Modefotografie. Aber das ist vielleicht auch ein anderes Blog-Thema.) Ja, Lindbergh hat mit zu dünnen Frauen gearbeitet und das System bedient. Aber er hat es auch geschafft, dem Ganzen etwas Leben und Seele einzuhauchen. Man sieht den Bildern die Verbindung, das Vertrauen, zwischen Fotograf und Model an. Er zeigt nicht nur die Mode, sondern auch Personen. Man fragt sich: Was denkt gerade Eva, unter diesem Atomhut? Das schafft man aus meiner Sicht nur, wenn man miteinander im Gespräch ist und sich auf Augenhöhe befindet.
Der TASCHEN-Verlag lässt den Kunden diese Großzügigkeit durchaus etwas kosten. Die beiden Bildbände kosten 150 Euro. Dafür bekommt man Peter Lindberghs letztes Werk, wie es nicht schöner sein könnte.
Bibliographische Angaben: Peter Lindbergh. Dior. Erschienen bei TASCHEN. ISBN 978-3-8365-7990-2
Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch
{WERBUNG. Der TASCHEN Verlag hat mir den besprochenen Bildband und Bilddateien kostenfrei zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus habe ich keinerlei Honorar erhalten. Meine Meinung bilde ich mir kraft meines Verstandes selbst. Das Beitragsbild stammt von mir.}